Silvia Süess, WOZ
Es wird kalt in der Schweiz, das ist seit den letzten Wahlergebnissen klar. Kalt wird es auch in den neuen Schweizer Spielfilmen, die diese Tage in die Kinos kommen. In «Heimatland» (vgl. WOZ Nr. 33/2015) wächst eine düstere Wolke über dem Land und lässt die Menschen in Panik ausbrechen. In «Wintergast» von Andy Herzog und Matthias Günter ist es nun der reguläre Winter, der sich über das Land gelegt hat und es unwirtlich und einsam erscheinen lässt. Die beiden Regisseure lassen in diesem Setting einen Drehbuchautor in Schaffenskrise durch die Schweiz ziehen. Stefan Keller – gespielt von Regisseur Herzog selber – wurde durch einen preisgekrönten Kurzfilm zum Hoffnungsträger der Schweizer Filmbranche. Nun leidet er an seinem neuen Drehbuch und kommt kaum über den ersten Satz hinaus.
Ein knapp vierzigjähriger Drehbuchautor in Schaffenskrise – das klingt nicht nach einer originellen Idee, haben sich doch schon einige Filmemacher an diesem Plot versucht. Doch was Herzog und Günter aus diesem Stoff machen, geht zum Glück weit über das Klischee hinaus: Da Keller Geld braucht, nimmt er eine Stelle als anonymer Jugendherbergetester an. So zieht er mit seinem Rollkoffer und in Lederjacke durchs verschneite Land, streift mit weissen Handschuhen über staubige Schäfte und notiert, wie gut die Nachttischlampen oder die Wasserhähne funktionieren. Und der Jugi-Check wird zu einer Art Befindlichkeitsstudie der Schweiz. Denn überall trifft Keller auf unterschiedlichste Menschen (dargestellt von Laien und Schauspielerinnen), die aus ihrem Leben erzählen – wie den Mann am Stammtisch, der sich hatte erschiessen wollen, aber nicht ganz getroffen hatte, oder den Flüchtling im Postauto, der von seiner Flucht erzählt.
In wunderschön durchkomponierten Schwarzweissbildern zeigt «Wintergast», der sich als Hommage an Christian Schochers grossartigen Film «Reisender Krieger» versteht, eine Schweiz, die man so kaum im Kino sieht und die wir doch alle kennen.
Hans Jürg Zinsli, Berner Zeitung
Im Berner Spielfilm «Wintergast» reist ein scheiternder Filmer quer durch die Schweiz. Jetzt tourt dieses Filmbijou im Rahmen des Berner-Filmpreis-Festivals durch den Kanton.
Stefan Keller hat Glück. Mit seinem Kurzfilm gewinnt er nicht nur den Schweizer Filmpreis 2007, sondern bekommt auch einen Vertrag für seinen ersten Spielfilm angeboten. Dann passiert allerdings nicht mehr viel. Der hochgelobte Jungfilmer verheddert sich in seinem Drehbuch. Und als nach fünf Jahren das Geld knapp wird, nimmt er einen Nebenjob als Jugendherberge-Tester an, um zur alles andere als besinnlichen Vorweihnachtszeit kreuz und quer durch die Schweiz zu reisen.
Klingt vertraut? Tatsächlich hat die Schreibblockade dieser Filmfigur autobiografische Hintergründe: Sowohl der Berner Regisseur und Kameramann Matthias Günter als auch der in Zürich aufgewachsene Regisseur und Schauspieler Andy Herzog kamen einst bei ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm ins Stocken. Die Filmemacher gaben jedoch nicht auf, sondern entschlossen sich, ihre Blockaden zur Basis eines neuen Projekts zu machen. Der Titel: «Wintergast».
Jenseits der Postkartenidylle
In diesem Spielfilm verkörpert Co-Regisseur Herzog jetzt den Herberge-Tester Keller, der zwischen Basel und Fiesch, zwischen Lugano und Bern mehr oder minder obskuren Gestalten begegnet, seine Beziehung und seinen Film zu retten versucht und auf allen Ebenen scheitert.
Es ist eine Odyssee mit grosser Schweizer Tradition, die in «Wintergast» erzählt wird: 1979 hatte der Bündner Christian Schocher mit «Reisender Krieger» ein Opus magnum im Billigstil gedreht, das bis heute als einer der verrücktesten und kultigsten Schweizer Filme gilt. Schocher und sein Berner Kameramann Clemens Klopfenstein liessen damals einen Parfümvertreter namens Krieger durch eine in Beton erstarrte Schweiz reisen.
Krieger, verkörpert vom Laiendarsteller Willy Ziegler, wurde zum Inbegriff eines Scheiternden jenseits der schweizerischen Postkartenidylle. Drei Jahre später doppelten Klopfenstein und Remo Legnazzi mit einem frustrierten Nachrichtensprecher in «E nachtlang Füürland» nach.
Mal tragisch, mal komisch
Vieles von diesen Werken kann man auch in «Wintergast» wiederfinden. Die Betonschweiz ist diesmal vor allem aus Zug und Postauto zu bestaunen. Als Zugabe werden Aufenthaltsräume und Kaffeeautomaten sonder Zahl gereicht. Und da sind jede Menge Zufallsbegegnungen, die sowohl der orientierungslosen Hauptfigur wie auch dem Film als Erzählmotor dienen. Mal mit tragischem, mal mit komischem Effekt, etwa wenn sich Keller von einem Mann in einer Berner Bar erklären lässt, weshalb dieser keinen Schlaf und also auch keine Wohnung brauche.
Mag sein, dass «Wintergast» nicht ganz an die Klasse der früheren Kultfilme herankommt. Während Schochers «Reisender Krieger» im Original über drei Stunden dauert, endet der Film von Günter und Herzog schon nach 82 Minuten. Dennoch ist «Wintergast» eine wunderbare Hommage. Das wird spätestens dann klar, als man Schocher in einem Restaurant in Pontresina sitzen sieht. Schocher spricht nicht, er liest Zeitung. Und damit ist im Grunde alles gesagt.
Christian Jungen, NZZ am Sonntag
(…) Makellos ist der auf feinen Alltagsbeobachtungen basierende Schwarz-Weiss-Film WINTERGAST von Andy Herzog und Matthias Günter. Ersterer verkörpert selber einen 39-jährigen Drehbuchautor in der Midlife-Crisis. Die Freundin will eine Auszeit, ihm fehlt die Inspiration für eine neue Geschichte. Also tingelt er als Hotelprüfer durch die Schweiz und kontrolliert, ob in den Zimmern abgestaubt wurde. Seine traurig-schöne Odyssee erinnert an den Kultfilm «Reisender Krieger» (1981) von Christian Schocher, der einen kurzen Auftritt hat. Was WINTERGAST sowie generell das Kino der Millennials auszeichnet, ist die prägnante, zuweilen ästhetisierende Bildsprache. So selbstverständlich wie heute junge Parlamentarier von gewinnendem Aussehen sind, finden Cineasten, dass man nicht auf No-Budget-Look setzen muss, um ernst genommen zu werden. Das war lange anders. (…)
Tageswoche, Hansjoerg Betschart
(…) Wie ein Prolog stand Matthias Günther mit! «Wintergast» vor allen Schweizer Beiträgen:«Wintergast» lässt den Filmnovizen Stefan Keller (gespielt und improvisiert von Andy Herzog) seinen Film erst einmal in der Schweiz vorbereiten. Er sucht für seinen Film Produzenten, Geld, Mitarbeiter und – Sinn. Wir sehen einen Film über die Entstehung von Film in der Schweiz. Wie sieht der Alltag all jener Jungfilmer aus, die die Schweiz bereisen auf der Suche nach Geld und Geist, um Filme zu machen. Einen Produzenten findet der Jungspund Keller rasch, auch Coaches, die viele Tipps (oft auch Geld) geben, ebenso wie Stiftungen zuhauf, die bald mehr Personal angestellt haben als es in der Schweiz Filmemacher gibt – und Sinn … «Wintergast» steht als prächtiges schwarzweisses Vorspiel zu den farbigen Schweizer Beiträgen in Locarno. Endlich findet der fiktive Regisseur seinen Sinn im Leben: Seine Freundin will Mutter werden. Schliesslich stösst er beim «Türsteher» von Franz Kafka auf seinen Schlüssel-Gedanken: Wer zu lange am Augenblick festhält, entscheidet zu spät – und verpasst seinen Film. Dies ist, am Ende eines schön fotografierten Schwarz-Weiss-Filmes, eine hübsche Pointe zu Locarno: Film ist! – nicht zuletzt – das Festhalten eines besonderen Augenblicks.(…)
Simon Jäggi, Berner Kulturagenda
(…) Übrigens ist der Prokrastination jüngst ein wunderbares Denkmal gesetzt worden: Der Spielfilm-Erstling «WINTERGAST» von Matthias Günter und Andreas Herzog, der heuer an den Solothurner Filmtagen Premiere feierte und im Herbst in die Kinos kommen wird. Was mich tröstete: Es gibt sogar noch grössere Prokrastinier-Talente als mich. (…)
Irene Genhart, der Landbote
(…) Doch es hat in Solothurn nicht nur die Generation der 50+-Filmer sich nachhaltig in Erinnerung schreibende Werke vorgestellt; es ist dies auch einigen weit Jüngeren gelungen. Andy Herzog und Matthias Günter etwa mit «WINTERGAST», einem in Schwarzweiss gehaltenen Roadmovie, in dem ein verkannter Nicht-mehr-ganz-Jungfilmer als Jugendherberge-Tester durch die verschneite Winterschweiz reist; dabei mit allerlei bizarren Zufallsbekanntschaften nach dem Sinn des Lebens forscht, seine langjährige Lebenspartnerin verliert und schliesslich doch, aber eben viel zu spät, ein Drehbuch vollbringt. Gross wird der Blues in diesem Film geblasen und an Christian Schochers «Reisender Krieger» erinnert dieses erfrischende Copain-Movie auch. Nice ist das und absolut sehenswert (…)
Geri Krebs, Neue Zürcher Zeitung
(…) Das in berückendem Schwarz-Weiss gefilmte Werk (Kamera: Matthias Günter) ist inspiriert von Schochers Opus magnum «Reisender Krieger» von 1980. So wie dort ein Handelsreisender durch eine graue Winterschweiz reist, ist es hier ein Zürcher Filmstudent (Koregisseur Andy Herzog), der in seiner Schaffenskrise einen Temporärjob als Tester von Jugendherbergen annimmt. Als melancholisches Roadmovie, Tragikomödie um eine Beziehung und ätzende Bestandesaufnahme schweizerischer Befindlichkeiten funktioniert der weitgehend improvisierte Film hervorragend, und in seinen Betrachtungen übers Filmemachen ist er so komisch wie genial. (…)